Wir schreiben das Jahr 2015, Himmelfahrt. Die Männer des Luppenauer Fördervereins trafen sich um 10 Uhr zur traditionellen Ausfahrt. Sie hatten ihre Frauen mitgebracht. Aber nicht deswegen verweise ich so nachdrücklich auf das Datum. Schon vor Jahren, als noch vorwiegend trinkfeste Kerle mit Rad, Fanfare und Flieder eines ihrer letzten Refugien besetzten und dabei auch die eine oder andere Blessur ertrugen, nahmen die Väter des Vereins bereits gerne ihr biologisches Pendant mit auf die Reise. Vermutlich können sie für diese Region in Anspruch nehmen, Vorreiter eines heute allgemein zunehmenden Trends zu sein. Es war eine Frau, die mich, als ich seinerzeit vor dem Löpitzer Schloss auf regennassem Kopfsteinpflaster stürzte, mit bewundernswerter Zivilcourage vor dem Hohn der auf dem Rondell versammelten Menge in Schutz nahm. Sie können sich denken, welch zarte Hand danach Desinfektionsmittel auf das blutende Fleisch sprühte. Ja, wir nehmen wirklich gerne unsere Frauen mit und hätten diesmal beinahe eine Jungfrau dabei gehabt, wenn sie denn gewollt hätte. (Ein paar Minuten hat sie uns ja begleitet, wodurch wir jünger wurden, im Durchschnitt.)
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Wieder war es eine Frau, die diese alljährliche Routine auf ein bemerkenswertes Niveau hob. Pfarrerin Böhme hatte ihre Begleitung und einen einleitenden Gottesdienst in Aussicht gestellt. Nein, meine Herren, wir tun nichts woran sie hätte Anstoß nehmen können, es sei denn ganz tief im Wald, sehr diskret und ausreichend weit weg. Aber da wartete noch eine Pilgergruppe in Horburg und so blieb es bei einführenden Worten, wie man seinen Weg findet und geht, wie sich das Pilgern in der Aue entwickelt hat und noch könnte, und überhaupt sind wir ja nicht nur schlichte Wanderer auf einem kleinen Teilstück im Zeichen der Muschel, nein vielmehr kleben und nageln wir dieselbe überall dort an, wo sie echten Pilgern hilft ihr Ziel zu erreichen. Wer so unterwegs ist, wird vielleicht mit Einsichten belohnt, wenn er nur aufmerksam beobachtet, was am Wegesrand zu sehen ist. Ein kleines Lied noch, das als sakraler Ohrwurm diesbezüglich unterstützend wirken kann. Gruppenfoto vor der Kirche und los ging die Fahrt.
Muss man denn das Auge so weit schweifen lassen? Kann die Erkenntnis nicht auch ganz in der Nähe begründet sein, in sich selbst sogar? Ist es nicht das, was viele Pilger motiviert, die Möglichkeit an der Aufgabe, an den Strapazen zu wachsen, sich selbst zu finden?
Was knackte da eigentlich so und störte den harmonischen Lauf des Rades? Es war die Gangschaltung. Der Flieder war schuld. Geklauter Flieder - vom Nachbarn - hastig angebunden, der eigentlich zu große Zweig, immer noch einmal herum mit dem Strick. Dabei ist der Bowdenzug in den Knoten geraten. Eigentumsdelikte gehen oft mit Eile und mangelnder Überlegung einher. Das Problem ließ sich auch nicht einfach mit dem Messer beheben, dann wäre die Neubefestigung nicht mehr möglich gewesen. Niemand hatte einen so schönen großen Flieder – Eitelkeit. Inzwischen war der Verein weg. Wo ist der rechte Weg? Immer dem Flieder nach. Würde ich zur Not allein nach Hause finden? Mit hechelndem Atem sinkt die Fähigkeit Erkenntnis und Botschaft wahrzunehmen, mal abgesehen von der Beschwerde des Körpers über unzureichendes Training. War das eine Strafe vom Soforttyp für kleine Sünden? Kurz vor Maßlau: Da fuhren sie, welche Freude! Glücksempfinden gedeiht besonders gut auf vorerlebtem Ungemach. Wir passierten den Ort. An der Kreuzung trennte sich die Gruppe. Zwei fuhren bis zur Autobahn, um die Beschilderung zu prüfen, die anderen zog es nach Horburg, wo bereits ein Picknick vorbereitet war: Knackwürstchen, Schmalzstullen mit Sauren Gurken, Bier und andere Getränke. Der Förderverein leistet sich eine motorisierte Marketenderabteilung. Zurück ging es auf dem Pilgerweg. In Horburg stand ein Pferd an der Kirche. Sein Kopf trug einen Hut und war mit Flieder geschmückt. Es mochte mich sofort, drehte sich fotogen, Portrait, und weiter radelten wir durch gelben Raps und den Auenwald voll weißen Bärlauchs, Gerüche inklusive. Wenn manchem hier das Herz weit wurde, lag das nicht am knoblauchähnlichen Duft, sondern am sonnendurchfluteten, mit allen Sinnen wahrnehmbaren Naturerlebnis.
In Zweimen drängten sich die Gäste im Garten der Gaststätte. Davor parkte ein blauer Lanz Bulldog mit roten Rädern und schwarzer Auspuffanlage, liebevoll restauriert. Der langsam tuckernde Diesel bekundete, dass der Trecker tatsächlich am Leben war und das Saisonnummernschild zeigte an, dass er das amtlich auch durfte. Sein aus Geusa stammender Besitzer nannte das Baujahr 1939. Hatten Sie schon einmal den Eindruck, dass sich Ehepartner nach Jahrzehnten zu ähneln beginnen, dass es eine auch optische Harmonie zwischen Hund und Herrchen geben kann? Aber dass ein Mann eins wird mit seinem Fahrzeug, sein Puls vermutlich synchron schlägt mit dem Auf und Ab des Zylinders, dass die Formen seines Körpers sich im Schwungradgehäuse oder der Konvexität des Daches widerspiegeln, und das glaslose Seitenfenster wie ein Rahmen wirkt für den stolzen Fahrer, dass beide, Mensch und Technik, sich gegenseitig heben und Sinn geben, nein so etwas habe ich noch nicht gesehen und es hat mich angerührt.
Nach ein- zwei Kilometern trafen wir einen Herren, der sich schon in Kleidung und Würde von den meisten Vorbeifahrenden unterschied. Er wäre schon in Santiago de Compostela gewesen, mit dem Fahrrad, berichteten seine Begleiter. Er ist authentisch, dieser Weg. Die letzten Kilometer am Raßnitzer und Wallendorfer See entlang bis zum Löpitzer Schloss fuhren alle hintereinander, um den Gegenverkehr nicht zu stören. Man grüßte, rief freundlich etwas herüber.
Ich fände das Leben schöner, wenn öfter Vatertag wäre. Wir wären bescheidener, freuten uns am Einfachen, was wir besser zu sehen gelernt hätten. Niemand erwartete ein Geschenk oder schlimmer, müsste eines besorgen. Der Tag an sich wird als solches wahrgenommen.